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Das Baltikum ( Kurland , Livland , Estland , Litauen )
und die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk 1917/18

Ein Beitrag zur Gründungsgeschichte von Lettland , Estland und Litauen

I. Die deutsche Besatzungspolitik in Kurland , Litauen und Riga (bis November 1917)

       Für das Verständnis der in den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk 1917/18 diskutierten baltischen Fragen erscheint es angebracht, zunächst einen Überblick über die deutsche Besatzungspolitik im Baltikum und das Schicksal der dort lebenden Völker bis zum November 1917 zu geben.

       In seiner Denkschrift vom 9. September 1914 erklärte Reichskanzler von Bethmann Hollweg, daß zur “Sicherung des Deutschen Reiches ... Rußland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden (muß).” >1<   Zu diesen “Vasallenvölkern” gehörten im baltischen Raum vor allem die Esten, Letten und Litauer.

       Von besonderer Bedeutung für die deutsche Politik gegenüber den baltischen Ländern im 1. Weltkrieg war jedoch, daß im Siedlungsgebiet der Esten und Letten, das etwa die früheren russischen Ostseeprovinzen Kurland , Livland und Estland umfaßte, auch eine größere Zahl von Deutschen lebte. Die Deutschbalten, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung der russischen Ostseeprovinzen 1897 rd. 7% betrug, waren dort seit dem 13. Jhdt. die sozial und kulturelle Oberschicht. Als adlige Grundbesitzer und in den Städten als gehobenes Bürger- tum bestimmten sie trotz russischer Oberherrschaft das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben des Landes. >2<   Litauen hingegen besaß infolge seiner anderen historischen Entwicklung keine solche deutsche Führungs- und Bildungsschicht. Diese Tatsache war eine der wesentlichsten Gründe für die unterschiedliche Behandlung Kurlands und Litauens im Rahmen der deutschen Besatzungspolitik während des 1. Weltkrieges.

       Die Besetzung Kurlands und Litauens durch deutsche Truppen erfolgte zwischen März  und September 1915. Die besetzten Gebiete wurden als > “Land Ober-Ost” der Militärverwaltung unterstellt. Die deutsche Besatzungsmacht baute dort eine Verwaltung auf, die sich auf fast alle Lebensbereiche erstreckte. Hierbei konnte sie sich in Kurland auf die äußerst bereitwillige Mitarbeit der ansässigen Deutschbalten stützen. Die Arbeit der Militärverwaltung hatte sich, wie § 6 der am 7. Juni 1916 mit Gesetzeskraft erlassenen Anordnung besagte, daran zu orientieren, daß “die Interessen des Heeres und des Deutschen Reiches ... stets denen des besetzten Landes (vorgehen).” >3< Dementsprechend dienten diese landwirtschaftlichen Überschußgebiete im Rahmen der deutschen Kriegswirtschaft zur Versorgung der Fronttruppen und des unter Ernährungsnöten leidenden Deutschlands. Darüber hinaus war Kurland nach den Plänen der Militärverwaltung als künftiges Siedlungsgebiet für demobilisierte deutsche Soldaten und aus Rußland zurückgeführte deutsche Bauern vorgesehen. >4<

       Begünstigt wurden die deutschen Siedlungspläne dadurch, daß Kurland weitgehend entvölkert war, denn mit dem russischen Rückzug waren drei Fünftel der dortigen Einwohner, davon rund eine halbe Million Letten, das sind mehr als ein Drittel des gesamten lettischen Volkes, nach Rußland geflohen. >5<

          Die Siedlungsvorhaben waren für die Oberste Heeresleitung Teil einer umfassenden Politik. Zwar konnte die Heeresleitung Mitte 1917 aus innen- und außenpolitischen Gründen nicht offen eine unmittelbare Annexion der baltischen Länder fordern, doch gleichwohl trat sie für deren möglichst enge Bindung und späteren Anschluß an das Deutsche Reich mit Nachdruck ein. So stellte General Ludendorff auf einer Besprechung  im Großen Hauptquartier am 31. Juli 1917 fest, es gelte nicht “Länder zu annektieren, sondern einem Wunsche zu genügen, der in der Bevölkerung von Kurland und Litauen bestehe und den Anschluß an Deutschland zum Ziele habe.” >6< Hierzu beschloß die Konferenz, daß durch die jeweiligen Militärverwal- tungen in Kurland und Litauen “Vertrauensräte” berufen werden, die den “Schutz des Deutschen Reiches erbitten”. Aus den Vertrauensräten sollten dann “Landesräte” als Vertreter ihrer Länder mit beschränkten Befugnissen gebildet werden, wobei in Kurland eine deutsche und in Litauen eine litauische Mehrheit gesichert werden müsse. >7< Ziel sei die Ausübung der Staatshoheit durch den König von Preußen oder seinen Ver- weser (Stellvertreter). Diese Art der Angliederung solle jedoch den Kurländern und Litauern noch nicht offiziell mitgeteilt werden.

          Im Sinne des vorgenannten Beschlusses trat in Kurland am 21. September 1917 ein erweiterter Landtag zusammen, dem 78 Abgeordnete, davon 48 Deutsche, aber nur 28 Letten, angehörten. >8< Er bat in einer Adresse an den Oberbefehlshaber Ost um “den Schutz und Schirm des mächtigen Deutschen Reiches” sowie um die Genehmigung, aus seiner Mitte einen Landesrat zu berufen. >9< Nachdem bereits am nächsten Tag die Genehmigung erteilt wurde, kam es zur Wahl eines 20-köpfigen Landesrates. Als eine von Deutschbalten beherrschte Ständevertretung >10< repräsentierte dieser Landesrat auch nicht annähernd die lettische Bevölke- rungsmehrheit.

          In Litauen hingegen konnte sich die Militärverwaltung nicht auf eine deutsche Oberschicht stützen.     Aus diesem Grund, aber auch um polnischen Ansprüchen auf eine Wiederherstellung der einstigen Union      mit Litauen zu begegnen, waren Reichsregierung und Heeresleitung eher als den Letten gegenüber bereit, den nationalen Bestrebungen der Litauer Rechnung zu tragen. So konnte mit Genehmigung der Militärbehörden auf einer Konferenz aller litauischen Parteien und Stände vom 18. bis 22. September 1917 in Wilna eine aus 20 Mitgliedern bestehender Landesrat (Taryba) gewählt werden. >11<   In einer Erklärung forderte die Konferenz einen unabhängigen litauischen Staat, der - um den Wunsch der Besatzungsmacht zu entsprechen - durch militärische und wirtschaftliche Verträge in einem engen und festen Bündnisverhältnis zum Deutschen Reich stehen sollte. Diese litauische Resolution, welche einen unabhängigen, auf demokratischen Grundsätzen aufgebauten Staat innerhalb der ethnographischen Grenzen  verlangte, war jedoch für die deutsche Besatzungsmacht so problematisch, daß sie nicht veröffentlicht werden durfte. >12<

          Während die Litauer durch den Landesrat eine in gewissem Maße repräsentative Vertretung ihrer Interessen gegenüber Deutschland besaßen, >13< fehlte den Letten eine derartige Organisation. Erschwerend war für die Letten, daß mitten durch ihr Siedlungsgebiet seit Herbst 1915 die deutsch-russische Front südlich von Riga und längst der Düna verlief.

          Viele Letten waren, wie erwähnt, vor den deutschen Truppen nach Rußland geflohen. Dort bildete sich aus dem Zusammenschluß zahlreicher lettischer Flüchtlingsorganisationen eine für die Letten politisch bedeut- same Vereinigung, der führende lettische Politiker angehörten. Außerdem erhielt das nationale Bewußtsein der Letten erheblichen Auftrieb durch die im Herbst 1915 innerhalb der russischen Armee aufgestellten rein lettischen Truppeneinheiten. Diese lettischen Schützenregimenter waren mit gewissem Erfolg an der Dünafront eingesetzt. Dennoch konnte es die russische Armee nicht verhindern, daß deutsche Truppen Anfang September 1917 die Düna überschritten und die wichtigste baltische Stadt, Riga, sowie mehrere baltische Inseln ( Ösel , Dagö ) eroberten.

          Noch kurz vor der deutschen Besetzung hatten in Riga, am 26. August 1917, Wahlen zur Stadtver- ordnetenversammlung stattgefunden. Hierbei konnte durch das von der Provisorischen Regierung Rußlands demokratisierte Wahlrecht erstmals ein Lette Stadtoberhaupt Rigas werden. Die deutschen Militärbehörden beseitigten jedoch die auf demokratischen Wahlen beruhende kommunale Selbstverwaltung Rigas und setzten einen deutschen Offizier als Stadthauptmann ein. >14<

          Unter dem Eindruck der deutschen Besetzung Rigas schlossen sich dort im Geheimen lettische Parteien zu einem “Demokratischen Block” zusammen, der sich Ende September 1917 in einer Resolution für die Unabhängigkeit Lettlands aussprach. Die deutsche Besatzungsmacht reagierte darauf mit Verhaftungen.

          Die Letten hatten ebenso wie die Esten zunächst nicht die volle Selbständigkeit gefordert, sondern nur Autonomie unter administrativer Zusammenfassung ihres gesamten Siedlungsgebietes innerhalb Rußlands verlangt. >15<   In beiden Völkern löste die russische Februarrevolution nationale und revolutionäre Bestre- bungen aus, die sich in vielfältigen politischen Aktivitäten äußerten. >16< Jedoch gewannen in den nach russischem Vorbild entstandenen Räten zunehmend radikale, bolschewistisch ausgerichtete Strömungen an Einfluß, und zwar besonders bei den Letten. Hierdurch kam es innerhalb des lettischen und estnischen Lagers zu immer stärkeren Auseinandersetzungen zwischen den bürgerlich-demokratischen Parteien und der revolutionären Rätebewegung.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   >
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